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Erfahrungsbericht 8
   
 

Eine kleine Meerjungfrau kommt zu uns

Erlebnisbericht von Hartmut

Wir schreiben den 15. Februar 2012. Mein Bruder Robert gewann vor einigen Tagen den inoffiziellen Wettbewerb zwischen mir und ihm um die nächste Vaterschaft in der Familie Steinbruch. Seine Tochter Hope kam am 11. Februar zur Welt. Während er und seine Freundin Faith im Wochenbett bereits das Familienglück genießen, ist meine Freundin Ellen noch immer hochschwanger und in mir steigt langsam die Aufregung wegen der nahenden Geburt unseres Kindes. Es wird ein Mädchen, soviel wissen wir schon. Demnächst wird es soweit sein.

Vorher besuchten Ellen und ich Robert und Faith. Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir von ihnen, dass Dagmar, unsere gemeinsame Hebamme, bislang davon ausgehe, wir würden ohne sie in der Klinik mit dem dortigen Personal unsere Tochter entbinden wollen. Daraufhin haben wir uns gestern sofort nach unserem Besuch mit ihr getroffen, um ihr und uns Klarheit zu verschaffen. Denn von „wollen“ kann diesbezüglich keine Rede sein. Und selbstverständlich wollen wir sie als unsere Vertraute dabei haben. Bis jetzt zweifelten wir daran, ob eine Hausgeburt in unserem Fall die richtige Entscheidung wäre. Ihre Zurückhaltung galt mir als ein Zeichen, lieber den konventionellen Weg zu gehen. (Wobei es fragwürdig ist, damit die Geburt in einer Klinik zu meinen, da es den Menschen von Natur aus seit Jahrtausenden gegeben ist, in nicht klinischer Umgebung Kinder zu bekommen.) Sie bestärkte uns in unserem Wunsch nach einer Hausgeburt und gab uns Tipps für die notwendigen Vorbereitungen. Dazu gehörten Kleinigkeiten wie die Besorgung von Totes-Meer-Salz für eine Wassergeburt und Naschwerk zur Stärkung. Das haben wir anschließend sofort erledigt.

Wieder daheim las Ellen sich einen Geburtsratgeber durch, den Dagmar uns noch ans Herz legte. Wobei es „durchlesen“ nicht richtig trifft. Sie hat das Buch mit den Augen eingescannt. Es heißt „HypnoBirthing“, ein abschreckend bescheuert klingender Titel. Inhaltlich ist das Buch jedoch sehr hilfreich. Autogene Methoden zum konstruktiven Umgang mit dem Geburtsschmerz werden darin beschrieben, was sehr sinnvoll ist in unserer Kultur der Angst. Beispielsweise wird der Vorschlag gemacht, den Geburtsvorgang in eine autosuggestive Erzählung einzubetten: „Das Leben kommt aus dem großen Meer an unsere vertrauten Ufer. In einer der vielen Wellen schwimmt ein kleines Menschenkind. Mit jeder Welle, die an den Strand zieht, sich auftürmt und schließlich brausend und schäumend bricht, kommt es näher zu uns, bis es schließlich aus seiner Welle ans Ufer gleitet.“ So zumindest lautet unsere. Auch mögliche Geburtshaltungen und Massagetechniken werden veranschaulicht.

Derart vorbereitet verbringen wir den heutigen Tag mit kleineren Erledigungen. Ellen räumt auf und ich arbeite einige Stunden in meiner Werkstatt. Abends kochen wir ein herzhaftes Fischgericht. Später probieren wir einige Massagetechniken und Geburtshaltungen aus dem genannten Buch. Dann gehen wir zu Bett. Ich lese Ellen aus einem Buch Robert Gernhardts vor. Gegen 23.30 Uhr lässt Ellens Begeisterung etwas nach, als sie heftig aufzustoßen beginnt und ein Ziehen im Unterleib verspürt. Ich befrage mich verunsichert hinsichtlich meines Vortrags, da sitzt Ellen auch schon schüttelfröstelnd und blass auf der Toilette, erbricht sich und schildert einen periodisch auftretenden Unterleibsschmerz.

Dass Sex wehenfördernd sein soll, habe ich gelesen. Aber Texte von Robert Gernhardt? Unsere Hebamme bat uns in einem ihrer Geburtsvorbereitungskurse, sie anzurufen bei einer Wehentätigkeit in Abständen von weniger als zehn Minuten. Ellens vermeintliche Wehen treten jetzt schon in siebenminütigen Intervallen auf. Ob es wirklich welche sind?

In den nächsten 30 Minuten verringert sich das Intervall auf nur noch zwei Minuten. Ich denke, man kann von einer stabilen Periode sprechen. Ich sollte Dagmar jetzt anrufen, auch wenn es inzwischen 0.30 Uhr ist und es sich vielleicht nur um „Senkwehen“ oder „Reizwehen“ oder um einen mir gänzlich unbekannten Wehentyp aus dem dicken Katalog des Schmerzes handelt.

Dagmar, ihre verschlafene Zerzaustheit ist durch das Telefon zu hören, rät uns, zunächst ein Wannenbad zu nehmen. Entweder handelt es sich um Reizwehen. Dann sollten sie durch ein entspannendes Wannenbad verschwinden. Oder die Geburt steht bevor. Jedenfalls sollen wir ihr den weiteren Verlauf in einer Stunde mitteilen.

Gesagt – gar nicht so leicht getan, denn für ein Wannenbad muss erst Wasser auf dem Herd erhitzt werden. Wir haben zwar einen gasbetriebenen Durchlauferhitzer. Dessen Leistungsfähigkeit ist jedoch im Bezug auf das Erhitzen von Wasser sehr beschränkt. Deshalb bemüht er sich, diesen Mangel auszugleichen, indem er zumindest – und das möglichst geräuschvoll – in kürzester Zeit enorme Mengen Gas verbrennt. Das kann er wirklich gut. Ich erspare ihm seine Anstrengungen und setze Töpfe mit Wasser auf.
Während das Wasser langsam erwärmt wird, versorge ich Ellen im Bad mit Zuwendung, vermeide es aber, sie unnötig zu betatschen und so eine unruhige Stimmung hervorzurufen, denn „Nicht nesteln!“, hieß das Gebot im Geburtsvorbereitungskurs. Ich kümmere mich um eine angenehme Atmosphäre, falls es unser Töchterchen heute tatsächlich an die Gestade der heimischen Wanne schwemmt. An allen möglichen Geburtsorten, Bad, Sofa, Bett, werden Schälchen mit Schokorosinen und Weintrauben sowie Gläser mit Wasser verteilt für die etwaige Stärkung zwischendurch. Kerzen werden angezündet. Immer wieder sehe ich bei meinen Vorbereitungen nach Ellen. Auf dem Lokus sitzt sie nach wie vor und geht ab und zu auf und ab. Sie konzentriert sich auf die Wellen in ihrem Körper.

Plötzlich fällt mir das Fehlen einer Bad-Heizung auf. Da muss Ellen in ihrem Zustand ja frieren. Ich gehe in meine Werkstatt im Erdgeschoss des Hauses. In einer Ecke muss eine Heizung stehen, die mir in Erinnerung an den vergangenen Winter im Gedächtnis ist. Wir nutzten sie damals, um vereiste Wasser- und Abwasserrohre im Hausflur aufzutauen. Wider Erwarten finde ich die Heizung sofort. Sie funktioniert hervorragend. Im Bad herrscht binnen kurzer Zeit tropische Wärme. Nun kann das Wasser eingelassen werden. Es kocht zwar noch nicht, aber für ein Entspannungsbad wird es reichen. Doch kommt es zur Entspannung?

Ellen legt sich in die Wanne. Es ist kurz nach 1 Uhr. Die Töpfe stehen mit frischem Wasser auf dem Herd. Die Luft ist feucht und warm, gedämpftes Licht geht von der kleinen Badspiegellampe aus, die Kerzen brennen mit gleichbleibender Flamme.

Ellen befindet sich inzwischen in einem tranceartigen Zustand, in dem sich hohe Konzentration und körperliche sowie geistige Gelöstheit vereinen. Die bevorstehende Geburt zeichnet sich immer deutlicher ab. Es handelt sich sicher nicht um Reizwehen. Kontinuierlich rollen die Wellen in Ellen im gleichbleibenden Abstand von nur zwei Minuten. Auf einer scheint bereits unsere kleine Meerjungfrau zu reiten. Ich rufe Dagmar an. Bericht erstatten. Sie mache sich auf den Weg.
Wenig später dringen größere Schleimmengen aus Ellen hervor. Ihr Geburtskanal ist sichtlich in Bewegung. Bei jeder Welle wölbt er sich. Ich sehe auf die Uhr. Es ist 2.20 Uhr. Dagmar wird von Friedrichshof bei Schwaan bis zu uns nach Rostock etwa 45 Minuten Fahrtzeit benötigen. Sicher muss sie noch einige Sachen packen. Außerdem traf ich sie unvorbereitet im Tiefschlaf. Zur Fahrtzeit werden deshalb noch einige Minuten hinzukommen. Die Uhr – ich denke, es ist Zeit, sie abzunehmen, denn sicher wird es demnächst erforderlich sein, ins Wasser zu greifen.

Ellen hat indes einen Teil der Fruchtblase hervorgebracht. Sie macht ihre Sache mit größter Gelassenheit und Konzentration. Sie wirkt routiniert und instinktsicher, als bekäme sie ihr zehntes Kind. Sie schreit nicht. Sie atmet stimmhaft und tief aus und zählt bei sich die Sekunden bis zum Verebben jeder einzelnen Welle. Das gestern erst angelesene Wissen kommt zum Einsatz, bevor es in Vergessenheit geraten kann. Zunächst ist die Fruchtblase zum Bersten gespannt. Bald schon erschlafft sie aber und zieht sich nicht mehr zurück wie zuvor. Bisherige Ahnung wird zur Gewissheit.
Ellen atmet ruhig. Sie sieht nicht, was vor sich geht. Sie spürt es. Unaufgeregt teile ich ihr meine Beobachtungen mit. Und meinen nächsten Gedanken: „Wir werden hier jetzt allein unsere Tochter auf die Welt bringen.“
Die nächste Welle brandet an die Ufer. In der nächsten Wehenpause rät Ellen dazu, die Haustür zu öffnen. Wir haben keinen elektrischen Türöffner. Es wäre ungünstig, wenn Dagmar später vor der Tür stehen würde und ich könnte sie nicht einlassen, weil ich bei unvorhergesehenen Komplikationen Hilfe leisten muss. Ich eile hinunter und wieder hinauf. Als ich wieder ins Bad herein trete, tritt zugleich das Köpfchen unserer Kleinen hervor, wie eine Perle, die einer Muschel entschlüpft. Ellen entspannt sich. Wie zuvor übergieße ich Ellen mit warmem Wasser überall, wo ihr Körper aus dem Wasser ragt. Ich halte ihr die Hand.
„Jetzt ist der Moment, in dem es immer heißt: Pressen!“, denke ich und ermutige Ellen, bei der nächsten Welle „zu pressen“. Diese lässt etwas auf sich warten. Das Köpfchen schwimmt derweil regungslos im Badewasser. Ich weiß aus den Schilderungen meines Bruders, dessen Töchterchen auch in der Badewanne zur Welt kam, dass es einen Atemreflex beim Neugeborenen gibt, der einsetzt, sobald das Kind Kontakt mit Luft bekommt. Es genüge dafür sogar, nur einen Teil der Nabelschnur aus dem Wasser zu heben. Soweit ist es bei der kleinen Perle in unserer Wanne noch nicht. Und angesichts der scheinbar leblosen Baumelei ihres Kopfes gilt es jetzt vor allem, den eigenen zu bewahren.

Im Treppenhaus ist es still. Niemand kommt. Wir sind voller Selbstvertrauen. Wir erwarten die nächste Welle. Langsam hebt sie sich. Das Wasser schwillt an. Es türmt sich zu einem Berg. Gischt schäumt. Ellen presst und schwungvoll gleitet unsere Meerjungfrau auf ihrem Wellenkamm ins heimische Badewasser.

Behutsam greife ich sie und lege sie Ellen auf die Brust. Ihr Köpfchen ist bedeckt mit einer zarten Haube als trüge sie eine Badekappe. Wir enthüllen sie wie ein Geschenk. Zart beginnt die Kleine zu atmen. Sie ist immer noch grau-blau wie eine Muschelperle. Robert hat mir erzählt, wie Dagmar das Neugeborene geknetet hat, um die Atmung zu stimulieren. Ich knete. Obwohl ich es ablehne, Freunde und Verwandte aus rein zweckmäßigen Gründen zu besuchen, muss ich mir zu diesem Zeitpunkt eingestehen, dass es außerordentlich nützlich war, vorgestern meinen Bruder besucht zu haben. Der Besuch hat mich heute zum Aushilfs-Hebammer befördert. Mit dem ruhigen Einsetzen der Atmung ändert die kleine Perle ihre Farbe hin zu einem satten rosa. Wir haben jetzt gemeinsam unser Töchterchen auf die Welt gebracht.
Im Badewasser sehe ich nach der darin gelösten Blutmenge. Sie ist gleichbleibend gering. Ellen scheint unverletzt. Die Nabelschnur schaut noch aus ihr heraus. Ich weiß, dass es mit dem Abnabeln etwas Zeit hat. Jedoch kühlt das Wasser ab. Inzwischen dürfte es für beide zu kalt sein. Wir überlegen kurz, ob ein Ortswechsel sinnvoll wäre. Da aber noch Töpfe auf dem Herd dampfen, die Atmosphäre gelöst ist und die Nachgeburt noch aussteht, verwerfen wir den Gedanken und beschließen, das Wasser bis zum Eintreffen Dagmars warm zu halten.
Dagmar. Ich rufe sie an und teile ihr mit, dass sie heute das Rennen verloren hat. Sie bestärkt uns darin, in der Wanne zu bleiben, rät aber, unser Kind zuzudecken. Sie werde gleich eintreffen. Wie spät es bei der Geburt war, will sie noch wissen. Erst jetzt schaue ich wieder auf die abgelegte Uhr. Es ist der 16. Februar kurz vor 3 Uhr. Die Kleine mag heute ungefähr gegen 2.45 Uhr auf die Welt gekommen sein. So wird es bald jedenfalls in ihrer Geburtsurkunde stehen.
15 Minuten später trifft Dagmar ein und spielt die Empörte. Ihr bleibt der erhabene Moment vorbehalten, routinemäßig abzunabeln und mit Ellen die Nachgeburt zu bewerkstelligen. Die kleine Meerjungfrau wird in ein trockenes Handtuch eingewickelt und mir in den Arm gedrückt. Nach ihrer ersten Untersuchung – die Finger sind vollzählig und alle an der ihnen genetisch zugewiesenen Stelle – einigen ersten Tipps für den Umgang mit ihr, dem unvermeidlichen Zettelkram und einigen Tassen Tee verlässt Dagmar uns morgens um 6 Uhr.

Wir kuscheln uns glücklich, erschöpft aber viel zu aufgeregt, um zu schlafen, in unsere weichen Kissen, unter denen man irgendwo noch die Kanten eines Buches von Robert Gernhardt spüren kann – zusammen mit unserer kleinen Meerjungfrau: Marike.

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